Selbsthilfe

In den heutigen Zeiten, in denen die Menschen über das Internet an unzählige Informationen kommen können, könnte man meinen, dass jeder weiß, was eine Selbsthilfegruppe ist und wie sie funktioniert. Aber irgendwie habe ich immer wieder den Eindruck, dass der tatsächliche Ablauf und die wirkliche Stimmung eigentlich doch nicht so bekannt ist. Deshalb möchte ich hier einmal darüber berichten.

Gruppen sind durch die Vielfalt der Teilnehmer recht unterschiedlich. Das ist ganz klar! So gibt es z. B. Gruppen, in denen überwiegend Menschen sitzen, die seit 10 Jahren und noch länger clean sind. Diese Leute können den neuen Teilnehmern, die vielleicht noch konsumieren, oder die gerade ganz frisch ihre Sucht an den Nagel gehängt haben, mit viel Wissen und Erfahrung begegnen und ihnen einfach super unter die Arme greifen. In einer anderen Gruppe kommen vielleicht jede Woche neue Leute, die sich gerade in der Entgiftung befinden. Da steht das Suchtmittel noch sehr im Vordergrund und die eigene Geschichte wird immer wieder erzählt.

Dirk und ich leiten eine Gruppe, die für Menschen mit Traumafolgestörung und Sucht in Kombination ist. Sie ist deshalb entstanden, weil es schon ein Unterschied ist, ob man es mit Menschen zu tun hat, die ausschließlich suchtkrank sind, oder ob es um Traumata geht. Beim letzten Fall sind die Geschichten drumherum einfach ganz anders und es ist enorm wichtig, dass man auf Gleichgesinnte trifft, die auch an ihrer Situation arbeiten möchten und konstruktiv mit den Erkrankungen Sucht und (K)PTBS umgehen möchten.

Und genau darum geht es. Jeder erzählt erst mal wie es ihm gerade geht und was so passiert ist seit dem letzten Gruppenbesuch. Meistens ergeben sich dadurch schon Gesprächsthemen, die nach der Befindlichkeitsrunde besprochen werden. Dabei geht es nicht unbedingt um das Suchtmittel. Im Gegenteil, es geht überwiegend darum, ob jemand gerade eine Entscheidung treffen muss, bei der vielleicht einige unterschiedliche Meinungen und Blickwinkel helfen können, die Situation gut zu durchleuchten. Vielleicht hat ein Gruppenmitglied auch ein Problem und weiß damit noch nicht so recht umzugehen. Es kann auch genauso gut sein, dass jemand etwas Tolles erlebt hat und die Freude gerne mit allen teilen möchte. Ganz besonders finde ich daran, dass es manchmal wirklich um Themen geht, die man sicherlich nicht mit jedem besprechen würde. Themen, bei denen man echt Bedenken hat, ob man sie laut aussprechen kann. Und dann plötzlich macht man die Erfahrung, dass es wirklich nichts gibt, was in einer guten Gruppe nicht besprochen werden kann. Diesen Moment habe ich schon häufiger erlebt und es ist immer wieder das Gefühl, als würde man sich in ein weiches Auffangnetz fallen lassen und es kann einem nichts passieren.

Es geht also darum, neue Bewältigungsstrategien zu finden. Was einst das Suchtmittel, in meinem Fall der Alkohol, erfüllen sollte (aber nicht tat), lernen wir jetzt selbst in die Hand zu nehmen. Der Sinn des Ganzen ist ja, dass wir vom Suchtmittel nichts mehr konsumieren. Ich spreche da gerne mal von zufriedener Abstinenz, denn es bringt niemandem etwas, wenn er sein Leben Lang dem Suchtmittel hinterhertrauert.

Bei mir war es so, dass ich überhaupt erst mal lernen musste, alleine zu leben und mich zu versorgen. Ich war da bei einem Stand von fast null, und das mit 25 Jahren.

Was mich in der Selbsthilfe total begeistert hat war, dass ich gleich eine Liste mit Telefonnummern bekam. Fast alle Teilnehmer meiner ersten Gruppenstunde trugen sich mit Namen und Telefonnummer ein. Ein Vertrauensvorschuss, der immer und immer wieder gegeben wird, auch wenn es dann schon oft vorkam, dass der Betroffene mitten in der Nacht anrief, weil das Bier alle war.

Das war im März 2003. Da sind schon so ein paar Tage ohne Alkohol zusammen gekommen. Und dennoch bin ich in der Gruppe glücklich. Ich finde es immer wieder unheimlich wichtig, wenn ich mit dem Thema konfrontiert werde. Eine ganz gefährliche Situation, die ich bei vielen Menschen schon gesehen habe ist, wenn man davon ausgeht, dass man mit dem Thema „fertig“ ist. Ja, das Gefühl kenne ich von mir. Ich habe irgendwie aber immer wieder Glück gehabt, dass ich mit Menschen in Kontakt kam, die nach Jahrzehnten ausprobiert haben, was ich im Kopf hatte und dann nur mit großer Mühe davon los kamen. Das führt mir immer wieder vor Augen, was in meiner Vergangenheit los war und was da in mir schlummert.

Selbsthilfe ist eine Aufgabe, die mir sehr gut tut. Ich kann in den Gruppen mein Wissen anbringen und kann etwas an die Gesellschaft zurück geben. Das ist ein wunderbares Gefühl.

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