Einfach nicht mehr trinken

Ja genau. So einfach ist das, und damit können wir diesen Teil des Blogs ja abhaken. – Nein, ganz im Ernst, es gibt Menschen, die das so denken, viele Menschen sogar.

Die Mutter meines besten Freundes, die zur Zeit der Äußerung etwa 75 Jahre alt war, hatte genau diese Meinung. Heute wäre das für mich der Moment, in dem ich die Unterhaltung mit einem “Ja, da hast Du wohl Recht” abbrechen würde, weil es einfach sinnlos ist. Die Realität ist völlig anders.

In der Zeit, in der ich am meisten getrunken habe, also am Höhepunkt meiner Sucht, war ich in genau dem Alter, in dem die meisten Frauen eine Familie gründen, Mutter werden. Mal ganz abgesehen davon, dass ich aufgrund meiner damals schlimmen Umstände keine Kinder wollte, die dann eine alkoholkranke Mutter haben, war die Vorstellung für mich absolut unmöglich. Der Gedanke daran, in der Schwangerschaft und Stillzeit nichts trinken zu können, war so unmöglich, dass man es nicht mal zu diskutieren brauchte. Ich bin davon ausgegangen, dass ich ohne den Alkohol nicht leben könnte.

Ich denke, dass genau das der Knackpunkt ist. Die Gedanken, die man sich um das Suchtmittel macht, sind so unverhältnismäßig und irreal. Aber man fühlt es so, aus tiefstem Herzen. Und das ist wohl der Grund, warum Sucht eine Erkrankung ist. Die Gefühle und Gedanken sind so schwer manipuliert, dass man sich weit fern der Realität befindet. Und es fühlt sich so verdammt echt an!

Bei mir war es so, dass ich dachte, ich kann ohne die täglich unbegrenzt zur Verfügung stehende Menge Alkohol wirklich nicht leben. Man sagt, dass der Leidensdruck mit der Sucht so hoch werden muss, dass er die Angst vor dem Aufhören übersteigt. Umgangssprachlich gesagt: “Man muss erst ganz unten sein, um aufhören zu können.” In meinem Fall musste dann also der Leidensdruck höher werden als die Angst vorm Sterben ohne Alkohol. Ganz schön hohe Messlatte.

Aber wo ist eigentlich dieses “ganz unten”? Muss ich dafür obdachlos sein und völlig verwahrlost in der Welt rumrennen? Nein, ich glaube, dass es ganz persönlich einfach eine Schmerzgrenze gibt, die man nicht unterschreiten kann. Wo die liegt, ist ganz individuell. Diese Schmerzgrenze verändert sich auch im Suchtverlauf. Sie rückt immer weiter weg. So können Menschen plötzlich damit leben, dass sie Partner, Job, Haus und Hof verlieren, um dann am Existenzminimum zu sein. Das macht dann wieder so unzufrieden, dass man es nicht aushält. Was tut ein Suchtpatient mit Gefühlen, die er nicht aushält? Er betäubt sie mit dem Suchtmittel. Eine Abwärtsspirale, die nie zu enden scheint. Aber doch ist dann da irgendwo der Punkt, an dem man fühlt: “Es reicht! Keine Flasche weiter!”

An diesem Punkt bin ich dann irgendwann 2002 angekommen. Ich kam eines Abends nach Hause, ich hatte eine Tagesreise nach Köln zu “Wer wird Millionär” (Publikm) gemacht. Die Aufzeichnung einer Sondersendung dauerte 6 Stunden. Es gab weder eine Pause, noch gab es Alkohol. Als ich spät am Abend nach Hause kam, war ich völlig fertig. Ich war entzügig und hatte es noch nicht begriffen. Mein damaliger Mann sagte mir das ganz deutlich ins Gesicht, woraufhin ich ziemlich eingeschnappt reagiert habe. Aber während ich dann etwas trank, es mir wieder gut ging und ich darüber nachdachte, kam mir schon in den Sinn, dass da etwas nicht stimmt.

Einige Tage später begegnete ich einer Frau, die sehr heruntergekommen war. Durch den Alkohol. Ich kann kaum in Worte fassen, was Alkohol anrichten kann. Ich war damals schon echt geschockt und ich muss sagen, dass ich so jemanden seitdem nie wieder gesehen habe, zumindest nicht durch Alkohol verursacht. Ich weiß nicht, ob Du diese Vorher-Nachher-Bilder kennst, wenn jemand Crystal Meth nimmt. Das muss wohl die schlimmste Droge sein, die es gibt. Diese Menschen haben innerhalb von einem oder zwei Jahren ein völlig deformiertes Gesicht, keine Zähne mehr und sehen aus, als seien sie gerade ganz furchtbar verprügelt worden. So sah diese Frau auch aus, ihr Gesicht war aufgeschrammt, weil der Alkohol die Poren der Haut so weit geöffnet hatte, dass sich alles enzündete. Wenn sie irgendwo saß, merkte sie auch keinen Harndrang mehr und ließ es einfach laufen. Und das wirklich ausschließlich durch 20 Jahre exzessiven Trinkens. Ich war einfach nur fassungslos und entsetzt.

Am nächsten Tag fand ich ihre Flaschen in meinem Mülleimer. Sie trank genau das selbe Getränk, genau die selbe Marke wie ich. Ich war geschockt. Irgendwie hat mir das ganz bildlich und klar vor Augen gehalten, auf welchem Weg ich war und wie dieser Weg enden würde. Das war, in Kombination mit den Entzugserscheinungen, einer der Schlüsselmomente, die dazu geführt haben, dass ich mich mehr und mehr mit dem Aufhören beschäftigte, denn so wollte ich einfach nicht mehr weiter leben.

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